Chapter 85: Warum Suchst Du Die Wahrheit Von...
Lilith trat ohne Zögern vor.
In dem Moment, als sie die Spirale aus silbernem Licht hinter sich überquerte, veränderte sich die Welt.
Was sie zurückließ – die sanft leuchtende Kammer, das Summen uralter Magie, die tröstende Präsenz behauenen Steins und geflüsterter Wärme – verschwand wie ein zu lange angehaltener Atem.
Verschwunden.
Und an seiner Stelle...
Es war nicht nur eine Bibliothek.
Eine Welt aus Büchern.
Endlose Türme des Wissens erstreckten sich bis zum Horizont und krümmten sich nach außen wie die Wurzeln eines göttlichen Baumes.
Einige Regale ragten so hoch auf, dass sie am Himmel verschwanden. Andere verdrehten sich zu seitlichen Schleifen und schwebten mühelos über dem Boden, als wäre die Schwerkraft von ihren Pflichten entbunden worden.
Die Luft war still. Kühl. Ehrfürchtig.
Nicht leblos – sondern wartend.
Der Duft an diesem Ort war anders als alles aus der sterblichen Welt. Es war eine Mischung aus Pergament und gealterter Tinte... aber darunter etwas noch Älteres. Eine trockene, schmerzende Süße, die nach Erinnerung roch, wie zu Staub gemahlene Zeit.
Lilith blickte nach oben.
Es gab keine Decke.
Keine Wände.
Keine Fenster.
Und doch war der gesamte Raum von einem ätherischen weißen Licht erfüllt, wie zu Atem destilliertes Mondlicht. Es flackerte nicht. Es bewegte sich nicht. Es war einfach.
Über ihr rotierten die Sterne langsam über eine endlose Leinwand der Nacht. Aber es waren keine Sterne. Nein – diese Lichter pulsierten mit Wissen.
Jedes war eine Welt, ein Reich, ein eigenes Gewölbe – leuchtende Planeten, in die Worte und Runen eingraviert waren und die Geschichten von ihren Oberflächen wie eine stumme Übertragung ausstrahlten.
Es gab keine Türen.
Keine Wächter.
Keine Echos des Lebens.
Nur sie.
Und das Gewölbe.
Lilith sprach nicht.
Sie musste es nicht.
An diesem Ort war Absicht lauter als Worte. Das Gewölbe reagierte auf Verlangen, auf Fokus. Es diente nicht und es gehorchte nicht – aber es enthüllte.
Also ging sie.
Jeder Fußtritt hallte zu laut in der heiligen Stille wider, nicht wegen des Geräusches, sondern wegen der Präsenz.
Jeder Schritt sandte eine Welle durch den Marmor unter ihr, wie Tinte, die in stilles Wasser getropft wird. Das Gewölbe hörte, fühlte und prüfte sie.
Es drückte gegen ihre Gedanken – nicht harsch, sondern neugierig.
Als würde es fragen: Warum jetzt?
Sie antwortete nicht.
Die Regale um sie herum standen unmöglich hoch, gefüllt mit leicht leuchtenden Büchern. Ihre Titel flackerten in und aus Sprachen, einige bekannt, einige längst tot und einige nie dazu bestimmt, von Mündern gesprochen zu werden.
Sie sah Bände von Rassen, die selbst vom Fluss der Zeit vergessen wurden – Geschichten von Aufstieg, Aussterben, Verrat und Erlösung.
Ganze Zivilisationen, reduziert auf Erinnerungen.
Jedes Buch änderte seine Sprache in dem Moment, als ihre Augen es berührten, und passte sich ihrem Verständnis an, als wollte es gelesen werden.
Aber sie streckte nicht die Hand aus.
Sie berührte kein einziges.
Lilith ging weiter.
Das Gewölbe brauchte sie nicht zum Suchen. Es war bereits entschieden worden.
Je tiefer sie ging, desto mehr begannen die Regale sich zu lichten. Zunächst war es subtil – eine fehlende Reihe hier, ein leerer Raum dort.
Dann wurde es offensichtlich. Regale verschwanden hinter ihr, nicht mit Geräusch oder Bewegung, sondern mit stiller Absicht. Das Gewölbe hatte ihr Bedürfnis erkannt. Es führte sie.
Verengte den Pfad.
Bis nur noch zwei Regale übrig blieben.
Eines stand zu ihrer Linken. Es war breit, stabil und mit feinen Schnitzereien bedeckt. Sein einziger leuchtender Titel brannte hell:
"Geschichte des Sukkubus-Clans."
Ihre Abstammung.
Ihr Vermächtnis.
Ihre Bürde.
Zu ihrer Rechten stand ein viel dünneres und höheres Regal. Es enthielt nur ein Buch.
Ein einzelner, isolierter Band.
Sein Titel schimmerte schwach:
"Die Wahrheit von ???"
Lilith wandte sich ihm zu, ihre Augenbrauen senkten sich leicht.
Die Fragezeichen waren keine Platzhalter. Sie versteckten nichts im herkömmlichen Sinne.
Stattdessen pulsierten sie wie lebende Symbole – ständig in Bewegung. Sie veränderten sich mit jedem Blinzeln, jedem Atemzug. Ihre Augen konnten sie nicht festhalten.
Sie waren nicht dazu bestimmt.
Sie wollten nicht verstanden werden.
Sie trat näher.
Die Luft veränderte sich wieder. Die Kälte vertiefte sich – aber sie war nicht physisch. Sie war emotional. Die Atmosphäre verdichtete sich, die Stille wurde schwerer, als wäre sie in einen Raum voller schlafender Götter, uralter Reue und lange ungestörter Geheimnisse getreten.
Auch der Geruch veränderte sich.
Der Duft von Pergament verblasste.
Und etwas Tieferes nahm seinen Platz ein.
Ursprung.
Ein Gewicht, das nicht zu Seiten gehörte, sondern zu Anfängen.
Lilith streckte die Hand aus –
Aber zögerte.
Selbst in ihrem langen Leben – durch Schlachten, Verrat, Aufstiege und Verluste – hatte das Gewölbe nie so reagiert.
Der Titel dieses Buches war nicht nur unbekannt.
Er widersetzte sich ihr aktiv.
Ihr Verstand lehnte ihn nicht ab, weil er zu komplex war.
Er lehnte ihn ab, weil die Wahrheit noch nicht bereit war, erkannt zu werden.
Sie machte einen weiteren Schritt nach vorne. Dann noch einen.
Aber sie streckte ihre Hand nicht wieder aus.
Denn etwas anderes hatte sich verändert.
Hinter ihr... brach die Stille.
Eine Stimme.
Tief.
Gemessen.
Unmöglich zu ignorieren.
Sie hallte nicht wider – sie existierte einfach, wie Stein existiert. Wie Schwerkraft existiert.
"Du stehst vor Wissen, das nicht dazu bestimmt ist, gekannt zu werden."
Lilith zuckte nicht zusammen.
Sie drehte sich nicht um.
Die Stimme war keine Bedrohung.
Sie war eine Präsenz.
Nicht männlich. Nicht weiblich. Nicht warm oder kalt.
Sie war... Struktur.
Architektur, der Gedanken verliehen wurden.
"Du suchst den Ursprung von etwas, das für dich unmöglich zu handhaben sein sollte."
Ihre Hände zuckten, die Finger beugten sich leicht.
Aber sie blieb still.
Das Gewölbe war noch nicht fertig.
Es wartete.
Dann fuhr es fort:
"Warum suchst du die Wahrheit von..."
Was als nächstes kam, war kein Wort.
Es war kein Geräusch.
Es hatte eine Wirkung.
Ein Konzept, zu groß für jeden Verstand, um es zu fassen.
Ihre Ohren hörten es nicht – ihr Wesen tat es.
Da war ein Brüllen und ein Flüstern, ein Schrei und eine Stille, eine Welle der Stille, die hinter ihren Augen drückte, über ihre Knochen knackte und sich um ihr Herz schlängelte.
Und dann... war es weg.
Nicht verblasst.
Zurückgezogen.
Als hätte das Gewölbe ihr einen Blick auf etwas gewährt, das nicht für sie bestimmt war, und dann die Tür geschlossen.
Lilith brach nicht zusammen.
Sie keuchte nicht.
Aber ihre Seele zuckte zusammen.
Nicht vor Schmerz.
Sondern vor dem Ausmaß.
Vor dem Verständnis, wie klein selbst die größte der Königinnen im Vergleich dazu wirklich war.
Sie stand in der Stille.
Ihr Atem war langsam. Ihre Haltung war stetig.
Aber ihre Hände ballten sich etwas fester.
Nicht aus Angst.
In Bewusstsein.
Denn was auch immer gerade gesprochen hatte – was auch immer durch sie gehallt war – war nicht für sie zu tragen.
Noch nicht.
Und jetzt, als sie zwischen zwei Regalen stand – eines von Geschichte geprägt, das andere von einer Wahrheit zu roh, um sie zu benennen – verstand sie etwas, das sie nie in Worte gefasst hatte.
Das Gewölbe enthielt nicht nur Wissen.
Es schützte es.
Es bewahrte die Wahrheiten, die die Realität selbst formten.
Und manche Wahrheiten...
Weigerten sich, angesprochen zu werden.